Buchtipp: Roger Willemsen: Wer wir waren

"Neu ist vielleicht nicht der Mensch, der neugieriger auf die Uhr schaut als ins Gesicht der Ehefrau." (Roger Willemsen, Wer wir waren)

 

Über Roger Willemsen zu schreiben ist schwierig. Die richtigen Worte zu finden, für das, was er hinterlassen hat. Worte zu finden, für seine unglaubliche Energie und sein großes Interesse am Menschen, an fremden Kulturen, Worte für seine Klugheit, seinen Enthusiasmus und seine Erzählgabe. Herbert Grönemeyer schrieb auf seiner Facebook-Seite, kurz nach Willemsens Tod:

"Er war ein außergewöhnlicher, großer Mensch mit einer unbedingten Haltung. Neben ihm zu sitzen, machte glücklich. Ihm zuzuhören ging einher mit einem sofortigen Frieden, es war ein Bad in Klugheit, Verschmitztheit, alberner rheinischer Hochintelligenz, Bildung und Wärme. Ein Höchstmaß. Er stärkte, war ein trauter Zuhörer, fand für Dinge Worte, die einen verblüfften, er war der Freund, für den man das Leben liebt. Einer der ganz wenigen Personen, die in der Öffentlichkeit stehen, die zum Vorbild taugen, an der man sich aufrichtet, wenn man eine Wand sucht und braucht."

Vor seinem Tod arbeitete Willemsen an einem neuen Buch, das den Titel "Wer wir waren" tragen sollte und in dem er von der Zukunft aus die Gegenwart betrachten wollte. Als Roger Willemsen jedoch von seiner Krankheit erfuhr, stellte er die Arbeiten an seinem Buch ein. Im Juli 2015 hielt er allerdings noch eine "Zukunftsrede", in der er seine Intentionen und Gedanken, die er im Buch festhalten wollte, mit dem Publikum teilte, und die vom S. Fischer Verlag herausgegeben wurde. 

Ein zentrales Thema ist die Digitalisierung und die Zeit  bzw. wie wir mit ihr umgehen. Beschleunigung ist zum Schlagwort geworden und inspiriert auch die Malerei, die Fotografie, die Literatur, den Film: "Groove", "flow", "move", "beats per minute" werden Kernbegriffe, Lasershows stellen Rapid Eye Movements nach, die Techno-Beats stimulieren die Herzfrequenz." Ununterbrochen häufen wir Informationen an, sind aber nicht in der Lage, zu fühlen und im Augenblick zu leben, zu staunen oder zu flanieren: "Der Zeitindex allen Erlebens hat sich geändert. Aus dem Transit ist ein Prinzip geworden, das In-die-Irre-Gehen des Flaneurs ist dem Zoom gewichen, dem Heran-Beschleunigen, der Verdichtung komplexer Zusammenhänge zu Piktogrammen, Signalen, Effekten, die wie die Verbildlichung von Lust-/Unlust-Impulsen daherkommen. Unsere Existenzform ist die Rasanz."

Willemsens Blick auf die Welt ist ein kritischer, einer, der nichts beschönigt, dennoch aber immer wieder auch amüsiert und ironisch wirkt. Es ist dieser unverkennbare Stil, den Roger Willemsen auszeichnete: scharf, aber trotzdem optimistisch und lebensbejahend. "Wer wir waren" ist ein dünnes Buch mit kaum 60 Seiten, aber eines, das man immer wieder zur Hand nehmen kann, um in Willemsens Gedankenwelt einzutauchen, um auf unsere Zeit und unsere Gesellschaft zu blicken und vieles auch selbst einmal gründlich zu hinterfragen.

Lektüreempfehlung*:

Roger Willemsen: Wer wir waren. S. Fischer Verlag GmbH. 2016.

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